„Wenn ich 50% Frauen im Team habe, aber die Diskussion in den Konferenzen zu 70% von Männern geführt wird, bringt mir das auch nichts.“ (Katharina Borchert, Chief Innovation Officer Mozilla im ZEIT Online Interview). Was hat das mit kollektiver Intelligenz zu tun? Sind Männer ‚kollektiv dumm‘? Was ist es, das kollektive Intelligenz entstehen lässt oder vernichten kann?

Dies erklärt eine Studie, die meine Forschungen seit Beginn meiner Dissertation 2010 geprägt hat, denn sie stellt eine Kernfrage der menschlichen Zusammenarbeit:  wann werden Menschen zusammen klüger, wann dümmer? Die Erkenntisse der Studie öffnen einen Türspalt zu der Magie, die ein Ganzes mehr werden lässt als die Summe der Teile. Sie können den Boden bilden für ein neues Bild von Organisationen.

Besitzen Gruppen so etwas wie eine Allgemeine Intelligenz?

ForscherInnen vom MIT Center for Collective Intelligence und der Carnegie Mellon University, Pittsburgh, wollten wissen, ob das, was seit mehr 100 Jahren für Individuen erforscht wird, auch für eine Gruppe von Menschen existiert: Eine Allgemeine Intelligenz, die über die unterschiedlichsten Aufgaben hinweg sichtbar ist und Leistungsvermögen für anstehende Aufgaben vorhersagen kann. Und wenn sie existiert, worauf sie zurückzuführen ist.

Hierfür ließen die Forscher insgesamt 700 TeilnehmerInnen in fast 200 Teams à 3-5 Mitgliedern verschiedenste Gruppenaufgaben bearbeiten. Von Puzzles über Brainstorming und Ressourcenverhandlungen bis zum Fällen von moralischen Urteilen. Vor jeder Sitzung wurden die individuellen Intelligenzquotienten gemessen. Beendet wurden die Sitzungen mit einer komplexen Aufgabe als Leistungsreferenz.

Und tatsächlich: die jeweiligen Leistungen eines bestimmten Teams bei den verschiedenen Aufgaben standen miteinander in einem positiven Zusammenhang. Hieraus konnte ein Faktor ermittelt werden, der ca. 43-44% aller Unterschiede in den Leistungen der verschiedenen Teams erklärte. Erstaunlich, denn aus jahrzehntelanger Forschung wusste man, dass auch die individuelle Allgemeine Intelligenz für 30-50% der individuellen kognitiven Leistungsunterschiede verantwortlich ist. Der Faktor der Allgemeinen kollektiven Intelligenz war also in seiner Existenz bestätigt.

Mehr noch: Er war ein hervorragender Indikator für die Gruppenleistung bei der Referenzaufgabe. Die Faktoren, denen man es zugemutet hätte - die durchschnittliche oder maximale Intelligenz der Einzelpersonen in der Gruppe – enttäuschten hingegen in ihrer Vorhersagekraft. Die kollektive Intelligenz ist somit eine Eigenschaft der Gruppe selbst und sie hat Vorhersagekraft jenseits dessen, was über die Fähigkeiten der Individuen erklärt werden kann!

Begegnungskultur als Zauberstab

Auf der Suche nach den Einflussfaktoren dieser kollektiven Intelligenz erwiesen sich die naheliegenden Vermutungen erneut als Sackgasse. Gruppenzusammenhalt, Motivation oder Zufriedenheit - nichts war eindeutig verantwortlich für den Unterschied in der kollektiven Intelligenz zwischen den Gruppen. Individuelle Intelligenz hatte hier zwar einen moderaten Einfluss, konnte die Unterschiede in den Gruppenleistungen aber nicht vorhersagen. Letzten Endes stieß man auf drei Faktoren die signifikant mit der kollektiven Intelligenz korrelierten und sie vorhersagen konnten: die Ausgeglichenheit der Wortmeldungen der einzelnen Teilnehmer (‚equality in distribution of conversational turn-taking‘), die Fähigkeit der Teilnehmer, die Gefühlslage ihres Gegenübers zu erkennen (‚social sensitivity‘) und der Anteil Frauen. Letzteres führte man auf die (durch Messungen bestätigte) höhere soziale Sensitivität bei den teilnehmenden Frauen zurück. Letzten Endes liegt der Fokus jedoch auf der Sensitivität, unerheblich ob von Männern oder Frauen eingebracht.

Die MIT Studie hat auch belegt, dass die individuelle Intelligenz zwar maßgeblich Einfluss hat auf Einzelleistungen, sie aber kaum Einfluss hat auf die Leistung einer Gruppe, die dieselbe Aufgabe zu lösen hat. Eine Gruppe von Intelligenzbestien ist also noch lange nicht smart. Sie müssen auch eine Kultur für das Miteinander finden, die die Egos in Schach hält und die Introvertierten zum Beitrag ermutigt. So werden die individuellen Stärken zu einem Mehr integriert statt zu einem Weniger abgeschliffen. Eine Gruppe mit geringeren Einzel-IQ‘s, aber hoher Qualität in der Begegnungskultur kann dann weitaus smarter werden als eine Gruppe von Genies. Zauberei?

In der Zusammenarbeit entfaltet das Wie des Miteinanders demnach signifikant mehr Wirkung als das Wer der Zusammensetzung. Teams oder Meetings oder ganze Organisationen, die von einigen wenigen Inputgebern dominiert werden und kein Gespür für das Gegenüber entwickeln, sind kollektiv also wenig intelligent, um nicht zu sagen kollektiv dumm. Sie können nicht ihr volles Potenzial nutzen und bleiben hinter den Möglichkeiten ihrer Leistungsfähigkeit zurück.

Auf der Suche nach dem perfekten Team ist auch Google auf diese Studie aufmerksam geworden (Projekt Aristotele 2012-2015). Innerhalb von vier Jahren bestätigte und ergänzte Google die Ergebnisse mit eigenen Daten von 180 Teams: für die Teamperformance zählte nicht das Wer, sondern das Wie. Denn individuelle Neigungen oder Fähigkeiten werden typischerweise von Interaktionsnormen ‚übermalt‘. Einzelne Charaktere oder Fähigkeiten können angesichts eines Gruppengefüges spontan verschwinden, sich ändern oder neu entwickeln. Über die Sensitivität für Gefühle, Bedürfnisse und Befindlichkeiten können diese Prozesse im Gefüge sichtbar werden. Es wird eine ‚Psychologische Sicherheit‘ vermittelt, in der zwischenmenschliche Risiken eher eingegangen werden und eine größere Vielfalt individueller Stärken eingebracht werden kann.

Was heißt das für Organisationen?

Kollektive Intelligenz entsteht offensichtlich nicht allein durch Quantität, sprich die schiere Masse, die einen mathematischen Durchschnitt näher an die Wahrheit bringt (s. einige Definitionen von Schwarmintelligenz, aber dazu im nächsten Science Heli Spot). Und intelligente Lösungen entstehen offenbar auch nicht allein durch ein Mehr an Daten oder optimierten Prozessen. Vielmehr entsteht kollektive Intelligenz durch die Qualität menschlicher Interaktion und ihres Organisationsprozesses. Entscheidend ist, wie wir uns und anderen zuhören, Unterschiede wahrnehmen und verarbeiten, aufeinander eingehen, uns auf neue Perspektiven einlassen, miteinander Lösungen verhandeln, uns und dem Prozess der Interaktion Aufmerksamkeit schenken. So kann ein intelligenter kollektiver Denk- Kommunikations- und Handlungsraum (nach Organisationsforscher Karl. E. Weick ein ‚Collective Mind‘) entstehen, aus dem heraus Organisationen smarter handeln können und selbst in komplexen Umfeldern leistungsfähig bleiben.

Die Gestaltung dieses Collective Mind wirft eine Unmenge an Fragen auf, die Organisationen für sich zu beantworten haben: Welche Aufgaben innerhalb der Organisation sind besser durch eine Einzelleistung zu lösen, welche durch eine Teamleistung? Ist es sinnvoll, den starken Fokus auf die Bewertung und Förderung von Einzelleistungen zu behalten? Wie können Bewertung und Förderung von Interaktions- und Begegnungskompetenz aussehen? Wie können Personal- und Organisationsentwicklung im Hinblick auf die gewünschte Begegnungskultur zusammenwirken?

Paradoxerweise konnte eine neue, psychologisch sichere Begegnungskultur bei den eher technikaffinen und kopfgesteuerten Google Mitarbeitern gerade durch das Vorliegen der umfangreichen Datenbasis aus den eigenen Studien vermittelt werden. Über Gefühle redete es sich dort leichter, wenn man es mit Zahlen rechtfertigen konnte. Nichtsdestotrotz: Leistung und Erfolg eines Teams und auch einer Organisation hängen nach diesen Erkenntnissen maßgeblich von Faktoren ab, die nicht mit der herkömmlichen Logik von Effizienz  ‚optimiert‘ werden können. Wie eingangs zitiert: Allein die Orientierung an Quoten bringt eben nichts.

 

Die Studie:
Woolley, A.W. et al., 2010. Evidence for a Collective Intelligence Factor in the Performance of Human Groups. Science, 330(6004), pp.686-8

Das Interview mit Katharina Borchert:
„Warum sollte ich lernen, anderen ins Wort zu fallen?“ ZEIT Online vom 14.9.2017

Der Transfer in Ihre Organisation:
Science Heli Knowledge Lab, 1/2-Tages-Workshop zur vorliegenden Studie
Science Heli Knowledge Space, „Der Geist zukunftsfähiger Organisationen“, 3./4. + 17./18. März 2018, Wien